Einführungsrede Herbert M. Hurka

Naomi Middelmann – painting deconstructed / Malerei, Objekte / Galerie Marek Kralewski, Freiburg, 9.9.2017

Sehr geehrte Damen und Herren,

es mag Ihnen vielleicht unkonventionell erscheinen, in einer Kunstausstellung zunächst etwas über Eigenheiten des Schreibens zu hören. Schreiben, vor allem das handschriftliche, ist ein langsamer Vorgang, abhängig von den Grenzen der Feinmotorik und des jeweiligen Werkzeugs. Zudem erzeugt Schrift immer ein gleichförmiges Bild, vor allem aber ist Schreiben wie übrigens auch Lesen Halluzinieren, weil die Sprachbedeutungen gezwungenermaßen innere Bilder hervorrufen.

Für Naomi Middelmann war Schreiben ein erster Zugang zu einem Medium, über das sie exklusiv und allein für sich verfügen konnte, dessen enorme Nützlichkeit sich aus einer Biographie ableitete, wie sie gerade heute unter den Bedingungen zunehmender Mobilität und wachsender Globalisierung typisch ist. Als Kind deutsch­-amerikanischer Eltern wird Naomi Middelman in Vevey, in der französischen Schweiz geboren. Als sie 16 ist, zieht die Familie nach New York, wo auch ihre Bildungsbiographie beginnt, die sie zu Abschlüssen mit Auszeichnung in Creative Writing und International Relations führt. Nach der Beteiligung an einer Verlagsgründung aber geht es wieder zurück in die Schweiz, wo sich dann eine wegweisende Zäsur abzeichnen sollte.

Wie ernst das mit dem Schreiben war und wie kongruent mit ihrer Persönlichkeit, belegt die Tatsache, dass sie bereits im Alter 8 Jahren Gedichte geschrieben hat, als junge Erwachsene einen dieser in den U.S.A. so renommierten Creative-Writing-Studiengänge abschloss und unter anderem Shortstorys verfasste. In dem Dauerdilemma zwischen zwei Kontinenten, zwei Kulturen und den Sprachen Englisch und Französisch soll das Schreiben das bieten, was das reale Leben vorenthält: eine Art Entopie, ein Zuhause, einen geschlossenen, wenn auch imaginären Raum, in dem sich Antworten auf die grundlegende Frage erhoffen lassen: Wer bin ich eigentlich? und das wiederum ist nicht mehr und nicht weniger als die so vieles mit sich ziehende Frage nach der eigenen Identität. Und doch: Bürdet eine junge Autorin mit einer derartigen  Forderung ihrem Schreiben nicht zu viel auf? Wörter sind vieldeutig und zwischen ihnen tun sich immer wieder zu große Lücken, im Extremfall sogar Abgründe auf, so dass dieses Wesentliche, also das, was man zu formulieren, zum Ausdruck zunbringen und festzuhalten hoffte, genau das also, was Stabilität und den sicheren Boden der Gewissheit versprach, letztendlich immer vom Gefühl des Verfehlens begleitet ist. Kurz gesagt: Für Naomi Middelmann erfüllten sich die Erwartungen an das Schreiben nicht.

Der Weg von den Bildern im Kopf, die das Schreiben erzeugt, zu Bildern, die sich außerhalb manifestieren, konkret und fassbar sind, benötigt den zweijährigen Umweg über die Arbeit in einem Glasverarbeitungsbetrieb und außerdem die Unterstützung durch einen Basler Künstler, der ihr empfiehlt, es mit der Malerei zu probieren. In der Tat schließt sie 2009 ein Studium an der Kunstakademie ab.

„Painting deconstructed“ – Malerei dekonstruiert – dies ein  Malprogramm, das  zugleich auch den Titel liefert für Naomi Middelmanns erste Ausstellung in Freiburg. Damit öffnet sich ein weitgespannter Kontext aus Philosophie, Konzeption und methodischen Prozeduren. Die Papierarbeiten, mit denen ich beginnen möchte, entstehen aus der Wiederverwendung – man könnte es auch  ein künstlerisches Recycling nennen – von alten persönlichen Dokumenten wie etwa Briefen, Schulheften und dergleichen. Im Grund nicht anders verhält es sich mit den Objekten, die aus früheren Leinwandbildern gemacht sind. Diese werden nämlich aus ihrem ursprünglichen Format frei gesetzt, umgedreht, zerschnitten, gefaltet, gewickelt und vernäht, so dass die ihnen charakteristische Flächigkeit sich verräumlicht und zum  Objekthaften steigert. Diese Wendung und Verwendung macht augenfällig, was das Adjektiv „deconstructed“ meint.

Der französische Philosoph Jacques Derrida, der mit seinen Texten die Verfahrensweisen der Dekonstruktion kanonisiert hat, weist darauf hin, dass es um Verwandlung geht, die nichts mit Destruktion, Zerstörung, zu tun hat, sondern mit der Befragung und Metamorphose eines Textes,  wobei Text bei ihm alles bedeuten kann, so wie er wörtlich sagt  „eine politische Situation, ein Körper, ein Tanz”, (Zit. Ende) demzufolge also auch sämtliche Kunstformen, was die Malerei selbstredend einschließt.

Die durch Schnitte dekonstruierten Werke finden eine neue Ordnung durch die vertikal und horizontal verlaufenden Bänder, wobei in den Farbakzenten der ehemaligen Bilder das Malerische in neuer Form wiederkehrt und konserviert ist. Die Attraktion dieser Arbeiten liegt in deren haptischer Qualität und der Dichte ihrer Bündelung. Die Malleinwand, die normalerweise als Bildträger kaum mehr ist als Mittel zum Zweck, entfaltet ihre spezifische Materialität. Die Webdichte des Stoffs zeigt sich als autonome Textur und gibt dadurch ein ästhetisches Potenzial zu erkennen. Von daher fusioniert ein bearbeitetes Artefakt mit den Eigenschaften eines Readymades. Mit ihren Faltungen und Verschnürungen erinnern diese Objekte an Verpackungen, was automatisch eine Neugier auf den Inhalt weckt. Ja, wo also und was ist der Bildinhalt? Als entwickelte sich da – praktisch unter der Hand – ein ironisches Spiel mit einem Hauptproblem der Malerei schlechthin.  

Inhalte dagegen deuten sich in einer zweiten Werkgruppe an, den Arbeiten auf konventionellen Bildträgern, die nicht nur den Mal-, sondern auch Zeichenprozess fixieren, auf denen aber auch Schriftzeichen, Sätze und Worte als bedeutungstragende Einheiten implementiert sind. Diese heterogenen und sachlich so weit von einander entfernt scheinenden Inputs arrangieren sich zu Bildzusammenhängen, die, worauf die Künstlerin nicht aufhört hinzuweisen, aus ihrem autobiographischen Erfahrungspool in den kreativen Prozess und die Bildproduktion drängen, sich visualisieren und damit objektivieren, zu kommunikativen Oberflächen werden.  Diese Feedbackschleifen zwischen der sedimentierten urpersönlichen Erfahrung und diesen künstlerischen Prozessen erlebt sie als Entdeckungsfahrten in ihre eigene Vergangenheit. Was sich also am Ende dieser erkennbar spontanen Prozeduren als fertiges Bild outet, lässt sich von vornherein nie absehen. Dass und auf welche Weise sich zuletzt auch für die Betrachtenden Zusammenhänge ergeben, ob sich diese zwischen abstrakt und figurativ keineswegs klar trennenden Bilder nicht gar zu Narrationen fügen mögen, hängt zwar auch von der Phantasie ab, aber davon nicht allein, sondern auch von den neurophysiologischen Voraussetzungen der Wahrnehmung.

Während ihrer Zusammenarbeit mit Neurophysiologen an verschiedenen Universitäten hat sich die  Künstlerin mit den Bedingungen der Wahrnehmung beschäftigt. Ihr Interesse galt vor allem deren Ambiguität, deren Mehrdeutigkeit, worin sich gerade jenes Moment fortsetzt, das dereinst am Umgang mit der  Sprache verunsichert hat. Will man dieses Moment auf Naomi Middelmanns Bilder und Objekte übertragen, so wirft das besonders die Frage auf, wie sich aus fragmentierten Einzelteilen Zusammenhänge aufbauen, wie Emergenzeffekte und Ganzheiten entstehen. Das liegt bei diesen Beispielen tatsächlich im Auge des Betrachters ebenso wie Bewegung und stabile Strukturen zusammenspielen, Dynamik und Stillstellung – alles in allem: Wie und was unser Gehirn analysiert und synthetisiert.

Um die Auslöser dieser un- und halbbewussten Prozesse besser zu verstehen, empfiehlt es sich,  sich auf die Beziehungen zwischen all diesen heterogenen Bildelementen zu konzentrieren. Ganz allgemein geht es um die Assoziation von Flächigem und Graphischem, Malerei und Zeichnung respektive Schriftzeichen sowie die Inszenierung von Materialeigenschaften: den Leinwandtexturen in gespanntem, gewickeltem, aufgewölbtem oder gefaltetem Zustand, wie sich den losen Fäden, die aus den grob geschnittenen Rändern abstehen oder fallen,  graphische Eigenschaften zuschreiben lassen.

Der Begriff „Graphik“ leitet sich von dem griechischen Verb „graphein“ her, das bekanntlich „schreiben“ bedeutet, womit sich noch einmal an den Anfang dieser Überlegungen anknüpfen lässt. Auch wenn die Künstlerin sich für die Malerei als ihr genuines Ausdrucksmedium entschieden hat, so behalten Schrift und Schreiben doch immer den Status einer formalen Ebene. Entweder wenn Worte oder Sätze außer ihren ästhetischen Potentialen das Gemalte um explizite Bedeutungen bereichern, oder die graphischen Formen nur an Schriftzeichen erinnern. Hierbei kommt den Zeichnungen mit den Körperbildern ein besonderer Stellenwert zu. Mit ihren endlosen kurvenreichen Liniengewirren, die den Eindruck erwecken, als würde der Stift nie abgesetzt, scheinen sie wie verwildert, befreit aus der Kulturtechnik und den Zwängen der Handschrift, so dass sie, anstatt Bilder im Kopf ausuzulösen, diese direkt aufs Papier transportieren.

Unter dem Aspekt des medialen Formats ähneln sich Tafelbild und Schreibblatt durchaus, so dass auch in dieser Hinsicht eine subkutane Beziehung zwischen malen und schreiben besteht. Allerdings mit jenen gravierenden Unterschieden, die für Naomi Middelmann die Malerei als die kompatiblere Kunstform erscheinen ließen. Da wäre auf der einen Seite der Schematismus der Schrift durch das beschränkte Zeichenrepertoire, was für einen visuell veranlagten Menschen auch ein eingeschränktes Formenrepertoire bedeutet. Ein schriftliches Produkt gibt sich nie unmittelbar, sondern erfordert den Aufwand und die Leistung der Dekodierung – außerdem, sofern mit der Schreibmaschine oder PC gearbeitet wird, bleibt eine unüberbrückbare Distanz zum Körper.  

Dagegen die Malerei: Anders als beim Schreiben, wo das Trägermedium wirklich nicht mehr ist als ein Mittel zum Zweck und in seiner Dimensionalität auf eine subalterne Fläche reduziert, lässt sich das Trägermedium der Malerei, wie im vorliegenden Fall, selbst thematisieren. Es besitzt eine körperlich erfahrbare Materialität, die sich ihrerseits durch eine Vielfalt zusätzlicher Materialien erweitern lässt, gibt Raum für Farben, Pinselduktus und dergleichen mehr. So und ähnlich stellten sich die Gründe dar, die Naomi Middelmann veranlassten, diesen entscheidenden Schritt vom Schreiben zum Malen zu riskieren, allerdings mit dieser ausschlaggebenden Besonderheit, dass Schreiben und Schrift in ihrer Malerei immer präsent sind – aufgehoben – in jener Doppelbedeutung, wie Hegel sie gedacht hat, als aufbewahrt und gleichzeitig gehoben auf eine neue, höhere Ebene. So behalten die Schriftzeichen einerseits ihre Selbstständigkeit, verwandeln sich im Bildkontext aber auch in reine Malerei.

Wenn ich abschließend noch einmal an Middelmanns früheres Schreiben erinnere, so deshalb, weil es in ihrer Biographie ja diese dominante Rolle gespielt hat als ein Medium, sich mit diesem ungreifbaren, fluiden Etwas, das sie als ihre Identität empfunden hat, auseinander zu setzen – auf Dauer jedoch mit unbefriedigendem Resultat. Völlig anders hingegen verhält es sich mit den Verfahrensweisen, die sie aus der Malerei entwickelt. Collagiert,  gefaltet, gebunden, verwickelt, genäht, ausfransend, meistens ohne sichtbaren Rahmen, manchmal auch mit – mit diesen Konstruktionen und Dekonstruktionen, diesen Formen und Antiformen, hat sich Naomi Middelmann ein variierbares Register geschaffen, um  den inneren Reichtum, der dieses schwer fassbare Kraftfeld, das da Identität heißt, in Kunstwerken zu materialisieren.